Analyse

Krieg in der Ukraine

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Wer ist Putin?
Ein Psychogramm

Der russische Präsident stellt der Welt bedrohliche Rätsel auf, die alle fragen lässt, was treibt ihn an? Wozu ist er fähig? Wie kann man ihm begegnen?

12.05.2022 | Norbert Panitz

Sigmund Freud beschrieb in seiner Libidotheorie die psychologische Kränkung als dritte Kränkung der Menschheit: Das Unbewusste ist ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens und entzieht sich der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens. Erlittene Traumata werden in das Unbewusste verdrängt. Das Verdrängte wirkt im Unbewussten unsichtbar weiter und legt dort die Basis für unerwünschte Verhaltensweisen, zwischenmenschliche Beziehungsstörungen sowie psychisches und körperliches Leid. So führen Gewalterfahrungen und Vernachlässigung in der Kindheit viele Jahre später häufig zu psychosomatischen Erkrankungen. Persönlichkeiten, die mit Macht ausgestattet sind, bilden hier keine Ausnahme, machen aber auch andere – und möglicherweise sehr viele – Menschen zu Leidtragenden.

Inszenierung als mächtigster Mann der Welt

Zweifelsfrei inszeniert sich Putin aktuell als der mächtigste Mann der Welt. Er gehört zu den reichsten Männern weltweit – und er ist derzeit der gefährlichste. Vermittelt wird die Ausübung seiner omnipotenten Macht auf Basis einer durch das russische Volk getragenen staatlichen Legitimation, militärischer Allmacht und seiner eigenmächtigen Definition von Freund und Feind. Darin gleicht Putin durchaus anderen Machthabern aus Gegenwart und Vergangenheit. Und dennoch gibt es einen Wesenszug seiner Herrschaft, der ihn von anderen Autokraten und Diktatoren unterscheidet. Es ist die systematisierte Verwendung der Lüge und Täuschung, auch in Form von Selbsttäuschung und Selbstverherrlichung. Putins Welt ist die des Verrats und der Bedrohung, er setzt auf brutale militärische Aggression und Zerstörung als Prävention und Bestrafung.

Putin bringt sein Lebenswerk mit historischen Aufgaben in Verbindung. Auf diese Weise versucht er sein Zerstörungswerk zu rechtfertigen und betreibt gleichzeitig den Untergang der bisherigen Weltordnung. Sein Handeln verursacht Tod und Vertreibung von Millionen Unschuldigen in einer Welt, die stattdessen eines gemeinsamen Kraftakts aller Völker angesichts der Herausforderungen durch Klimawandel und Naturkatastrophen, Überbevölkerung und Energiekrise bedarf. Der russische Kriegsherr erweist sich damit gerade nicht, wie von ihm ersehnt, als ein historisch bedeutsamer Staatsmann, sondern letztlich als eine gebrochene – ahistorische, amoralische und menschenverachtende Persönlichkeit.

Hier muss man sich auf die Suche nach der tieferen Ursache in seiner Persönlichkeit machen. Auch wenn Unmenschlichkeit diagnostiziert wird, so ist Putin doch ein Mensch und in seiner Vita als solcher zu betrachten. Er dürfte sich zweifellos auch auf meine Couch legen.

Ein tödliches Geheimnis: Putins erfundene Herkunft

Das, was Putin zu seiner Herkunft und frühen Geschichte in seiner selbstverfassten Biographie preisgibt, ist bis zu seinem 9. Lebensjahr erfunden. Seine Adoptiveltern, die er als seine Eltern ausgab und die mittlerweile verstorben sind , waren lediglich entfernte Verwandte gleichen Namens. Das wird aus den Aussagen und Bekenntnissen seiner wahren Mutter, Vera Putina, deutlich, mit der Interviews in den Jahren 2000 und 2015 aufgezeichnet wurden. Die 1926 geborene Russin zog in ihrer Jugend nach Georgien und verbrachte in dem Dorf Metechi ihr Leben. Im Jahr 2000 wurde Putin mit 52,7 % zum russischen Präsidenten gewählt. Als KGB-Offizier wusste er die Veröffentlichung des Interviews zu vermeiden. Die Publikmachung seiner georgischen und unehelichen Herkunft wäre ein unüberwindbares Hindernis für seine Wahl gewesen.

Allerdings kostete die Vertuschung mehrere Menschenleben. Nur mit Glück entkam der georgische Erstinterviewer seiner eigenen Ermordung. Er lebt heute unter falschem Namen im westlichen Ausland, während ein Mann gleichen Namens am Tag der abgesagten Erstveröffentlichung in einer türkischen TV-Sendung erschossen wurde. Zwei weitere Journalisten, die sich ebenfalls für Putins Kindheit und seine wahre Mutter interessierten, fanden im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit ihren Recherchen einen gewaltsamen Tod.

Was der georgische Interviewer in Erfahrung brachte, ist die tragische Geschichte des jungen Wladimir Putin: unehelich geboren, gezeugt in einer kurzen Liebschaft mit einem verheirateten Mann namens Platon Privalov – alles nachlesbar im Zeitmagazin 19/2015 , recherchiert von Steffen Dobbert, einem mehrfach ausgezeichneten Journalisten der Zeit ( Deutscher Reporterpreis 2017). Ich zitiere hier aus seinem Bericht.

Öffentliche Lügen sind von Wladimir Putin spätestens seit der Annexion der Krim bekannt. Aber nutzt der russische Präsident dieses Mittel der Politik, auch wenn es um seine eigene Mutter geht, oder verbreitet diese alte Frau eine Verschwörungstheorie? Die Berücksichtigung aller Fakten lässt eigentlich nur einen Schluss zu, nämlich, dass die Bekenntnisse von Vera Putin tatsächlich der Wahrheit entsprechen.

Verschiedene Stationen als Sozialwaise

Das Kleinkind Wladimir verbrachte nur zwei Jahre bei seiner mutmaßlichen biologischen Mutter, dann musste sie 1000 km entfernt zu einer Weiterbildung reisen und ließ ihren zweijährigen Sohn bei ihren Eltern. Später heiratete sie einen georgischen Soldaten, mit dem sie mindestens vier Kinder zur Welt hatte. Der Ehemann nahm den kleinen „Wowa“ (den Spitznamen behielt Putin zeitlebens) zunächst auf, verstand sich aber später nicht mehr mit ihm und verstieß ihn aus der Familie.

Zunächst lebte Wowa bei einem fremden Mann, einem Major, der keine eigenen Kinder hatte. Als Vera Putina ihren Sohn wiederfand, entschloss sie sich, ihn zurück zu ihren Eltern zu bringen. Lange konnte er allerdings auch dort nicht dort bleiben, da sein Großvater sehr krank wurde, so dass er im Alter von neun Jahren zu anderen Pflegeeltern kam, was bei seiner Mutter zu lebenslangen Schuldgefühlen führte und in der Folge zum Verlust des Kontakts zwischen Mutter und Sohn.„Aber ich hatte doch keine andere Wahl“, so Putina.

Die leibliche Mutter berichtete, dass die Pflegeeltern entfernte Verwandte ihrer Eltern waren, Wladimir Spiridonowitsch Putin und Maria Iwanowna Putina, die der russische Präsident später als seine leiblichen Eltern nennt. Aus dem Bericht ist weiter zu entnehmen, dass die beiden mit Wowa ins damalige Leningrad zogen. Dort meldeten sie ihn bei den Behörden an und ließen dabei seine Geburtsurkunde ändern. Sie machten ihn zwei Jahre jünger, datiert ist seine Geburt auf den 7. Oktober 1952, also genau zwei Jahre nach seiner tatsächlichen Geburt. So konnte Wowa nun, offiziell noch keine acht Jahre, am 1. September 1960 in seiner neuen Schule in Leningrad noch einmal in der ersten Klasse starten und Russisch lernen. Mehrere Dorfbewohner können sich an Wowa gut erinnern, damals liebte er Angeln und Judo. Vera Putina berichtete, dass Leute vom KGB sie in ihrem Haus aufsuchten und alle Familienfotos mitnahmen. Später fanden Reporter der britischen Zeitung The Daily Telegraph im Archiv der nächstgelegenen Stadt Aufzeichnungen, die belegen, das Ende der 50er Jahre tatsächlich ein Junge namens Wladimir Putin die dortige Schule besucht hat.

Ein seelisch schwer traumatisierter Junge

Es ist die Lebensgeschichte eines seelisch schwer traumatisierten mutter- und heimatlosen Jungen, der seine mehrfachen Verluste und seine existenzielle Infragestellung in seinem Leben zu heilen versuchte durch vollständige Verleugnung dieser ersten neun Lebensjahre mitsamt seiner Herkunft. So wird vor dem Hintergrund seines Lebensweges und der Rekonstruktion seiner Herkunft seine Persönlichkeit ausgesprochen plausibel. Geheimhaltung und die Verbreitung von Lügen über sein Vorleben fügen sich ebenso ein wie das Studium der Rechtswissenschaften und die Karriere beim KGB als Familienersatz. Das Erleben des Verstoßenseins und des Verlustes jeglicher Zugehörigkeit ließen ihn selbstwirksam zur patriarchalen Figur des russischen Volkes werden - ein Versuch, seine seelische Zerstörung aufzuheben. Die Wiederherstellung der Integrität und Einigkeit der russischen Nation nach dem Zerfall der Sowjetunion trifft auf sein Bestreben, sein persönliches Schicksal des Verstoßenen zu heilen.

Im Interview erklärte Vera Putina, er sei gekränkt. Sie hat damit natürlich die Seelenlage ihres Sohnes genau getroffen. Dieser sich mehrfach wiederholende Untergang der kindlichen Seele lässt sich begreifen als Ursprung seiner Zerstörungswut im Sinne eines malignen Narzissmus. Auch die Ablehnung durch den späteren Ehemann der Mutter, mit dem sie weitere Kinder gebar, fügt sich nahtlos ein in das Mosaik der Putinschen Zerstörungswut. Hinter der Maske eines sorgenden Vaters der russischen Nation verbirgt sich ein planvoll umgesetzter Instinkt und ein unbeugsamer Wille zur Vernichtung von allem und jedem, was sich nicht fügt. Die Bereitschaft zu zerstören, die sich in den vielen Kriegen und in seiner Kriegsführung der Vernichtung nachverfolgen lässt, ist letztlich das Korrelat der Vernachlässigung in seiner Kindheit.

Hungrig nach Bewunderung, getrieben von Zerstörungswut

Die neue Erfahrung einer liebevollen Mutterfigur und eines gewährenden Stiefvaters fügt ab dem 9. Lebensjahr ein weiteres Kapitel zur Erklärung der Psychopathologie Putins hinzu. Er blieb eben, hochgeschätzt und verehrt, doch nur der Ersatz für die 13 Jahre zuvor verstorbenen leiblichen Kinder seiner neuen Eltern. Wowas Existenz diente scheinbar der fantasierten Wiedergeburt der verstorbenen Stiefgeschwister durch ihn: eine Parabel für sein Bestreben der Wiederherstellung des alten Sowjetreiches, somit eine Parallele zu seiner historischen politischen Aufgabe, die er sich offensichtlich gestellt hat. Von der Stiefmutter mit Bewunderung überschüttet und schon als Student mit einem Sportwagen ausgestattet, sichert sich Putin in seiner Politikerkarriere über Jahrzehnte die Bewunderung des russischen Volkes und durch Eingriffe in die Wahlgesetzgebung den lebenslangen Bedeutungserhalt für seine Person.

Wir sehen hier unveränderbare Konstanten im Leben des Wladimir Putin: den Kampf um Bewunderung und Anerkennung, die Bedrohung seiner Integrität, die Selbstwirksamkeit in seinen Kriegshandlungen, die Selbstgewissheit durch Erfolg, die Plausibilität in seiner Weltsicht, die Funktionalität von Propaganda und Lüge, die Überwindung des Feindlichen durch Härte und Unnachgiebigkeit, die Überlebensfähigkeit durch Festhalten an den Zielen, die Scharfsinnigkeit und Intelligenz in seinen Strategien. Der in seinen Augen erfolgte Wortbruch des Westens baut den Konflikt mit dem Ehemann seiner Mutter auf ((= Fachsprache?)), remobilisiert diesen in der Feindlichkeit gegenüber westlichen Staaten und entfacht die Verachtung für seine Mutter.

Schließlich und nicht zu unterschätzen ist auch der zu beobachtende generelle Rückzug Putins während der Pandemie – ein Mutterboden für Ängste, Bedrohungsgefühle und paranoide Ideen.

Was ist zu tun?

Das ungeliebte verstoßene Kind in ihm zu sehen, wäre nicht falsch. Ihm Respekt für seine Lebensleistung entgegenzubringen wäre ebenfalls nicht falsch. Ihm klarzumachen, dass die Aufgaben der Menschheit gewaltig sind und übergeordnete Bedeutung haben vor der Heilung seiner Persönlichkeit und den Interessen seiner Wegbegleiter aus der Zeit des KGB, wäre notwendig. Von größter Bedeutung ist die Entkoppelung seiner persönlichen Geschichte von der politischen Figur, die er repräsentiert.

Seiner Asozialität, seiner Machtgier, seiner zerstörerischen Autorität zu begegnen ist eine Notwendigkeit, für deren Bewältigung Ausdauer und Durchsetzungsvermögen nötig sind. Die Lüge über seine Herkunft aufzudecken und in das Weltbewusstsein zu bringen, das bis zu ihm durchdringt und das es auch bis in das Bewusstsein der russischen Bevölkerung schafft, ist ein wichtiges und erstrebenswertes Ziel. Den Kampf der Systeme als ödipalen tödlichen Konflikt zu enttarnen, wäre ebenso bedeutsam. Dazu bedarf es einer väterlichen Autorität, wie den Internationalen Strafgerichtshof, aber auch der Fähigkeit, die Gerichtsverfahren so zu moderieren, dass diese in einer friedlichen Koexistenz aller Betroffenen münden. Es wird eine ähnlich schwierige Aufgabe sein, wie einen Selbstmordattentäter von seiner Tat abzuhalten. Eine psychologische Begleitung der Friedensgespräche wäre dringend erforderlich, wobei die Beratung beidseits erfolgen müsste.

Dr. med. Norbert Panitz

FA Psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker

Ärztlicher Leiter MVZ Psychische Gesundheit, Schriftleiter „ Ärztliche Psychotherapie“

Präsidiumsmitglied des BDPM ( Bundesverband Deutschland für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie)

Präsidiumsmitglied der DEUGE (Deutsche Gesellschaft für Gesundheit e. V.)



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